Die freie Individualität kann sich nur aus der Kulturgemeinschaft des Volkes entwickeln

Starke internationale Kräfte arbeiten mit aller Macht daran, die Homogenität der Völker und ihrer spezifischen Kulturen zu zerstören. Und Deutschland hat die Besonderheit, dass sogar weite Teile ihrer parteipolitischen Kaste selbst die Abschaffung des eigenen Volkes mit seiner hohen Kultur betreiben, von der sie innerlich völlig unberührt geblieben sind. Damit wird jedoch auch der Entwicklung des Menschen zur freien Individualität der Boden entzogen. Es ist daher von großer Wichtigkeit, die Bedeutung der europäischen Volkskulturen, insbesondere der deutschen für die Emanzipation der freien, sich selbst bestimmenden Individualität ins Bewusstsein zu heben.

Kulturgemeinschaft und Individualität des Menschen stehen in einem Wechselverhältnis, das die grundlegende Unterscheidung von individueller Identität und Gruppen-Identität fordert. Solange man sich über Eigenschaften, Werte und Gesetze einer Gruppe wie Familie, Volk, Nation, Kultur oder Religion definiert, herrscht das „Wir“ vor. Die Gruppe ist dann die übergeordnete Instanz, als deren Teil man sich wie selbstverständlich empfindet und von der man die Vorgaben fraglos übernimmt. Hier ist die individuelle Identität, die sich auch von den Anderen derselben Gruppe unterscheidet, noch nicht erreicht. Aber die Kultur der Gruppe ist die notwendige Voraussetzung, aus der sich erst die freie Individualität entwickeln kann.

Doch müssen wir die individuelle Identität noch von der persönlichen, psychischen Identität unterscheiden, in der die Individualität noch nicht ganz zu sich selbst gekommen ist.

Person und Individualität

In der Wissenschaft wird der Gruppen-Identität die personale Identität oder auch psychische Identität  gegenübergestellt. Doch wenn die psychische Identität wiederum „teilweise durch Gruppenzugehörigkeit und soziale Rollen …, das Wir“, bestimmt wird, wie es in Wikipedia heißt, zeigt sich der Begriff als zu kurz gegriffen. Er ist noch keine echte Gegenüberstellung, so dass man dort auch weiter schreibt, eine Identität könne aber nicht nur auf diesem Wir basieren. In zahlreichen Kulturen und Gesellschaften bestehe Identität auch in der Erfahrung der Einzigartigkeit des Ich, in dem ein Mensch sich als anders erlebe.

Wir müssen also die Psyche, welche die Person ausmacht, vom Ich unterscheiden. Das Wort „Persona“ bedeutete auch im Altertum die Maske, die der antike Schauspieler für seine Rolle trug, durch welche die Stimme des eigentlichen Menschen hindurchtönte (lat. personare  = hindurchtönen). Die Individualität des Menschen, sein eigentliches Ich, nimmt sozusagen im Schauspiel des Lebens verschiedene Rollen, Persönlichkeiten Masken an, hinter denen die Individualität noch weitgehend verborgen bleibt und nur hindurchtönt. Die Person ist eine Entfaltung der Seele und wie diese in ständiger Veränderung begriffen – was Erstarrungen nicht ausschließt -, die Individualität (lat. das Ungeteilte), das Ich, dagegen ist das geistige Wesen des Menschen, das sich immer gleich, mit sich identisch bleibt.

Persona (Pixabay)

Friedrich Schiller deutet in seinen Briefen „Über die ästhetische Erziehung des Menschen“ auf dieses Phänomen mit den Worten hin:
Etwas muss sich verändern, wenn Veränderung sein soll, dieses Etwas kann also nicht selbst schon Veränderung sein. Indem wir sagen, die Blume blüht und verwelkt, machen wir die Blume zum Bleibenden in dieser Verwandlung …, an der sich jene beiden Zustände offenbaren. … Aller Zustand aber, alles bestimmte Dasein entsteht in der Zeit, und so muss also der Mensch, als Phänomen, einen Anfang nehmen, obgleich die reine Intelligenz in ihm ewig ist. Ohne die Zeit, das heißt, ohne es zu werden, würde er nie ein bestimmtes Wesen sein. … Nur durch die Folge seiner Vorstellungen wird das beharrliche Ich sich selbst zur Erscheinung.“ (11. Brief)

Friedrich Schiller deutet damit auf ein Ich hin, das unveränderlich dasselbe bleibt. In der Philosophie des deutschen Idealismus, der Schiller verbunden war, wird von dem gewöhnlichen Alltags-Ich ein reines, höheres Ich unterschieden. So schrieb Schiller bereits im 4. seiner „Ästhetischen Briefe“:
„Jeder individuelle Mensch, kann man sagen, trägt, der Anlage und Bestimmung nach, einen reinen idealischen Menschen in sich, mit dessen unveränderlicher Einheit in allen seinen Abwechslungen übereinzustimmen die große Aufgabe seines Daseins ist.“

Er verwies dabei auf seinen Freund, den Philosophen Johann Gottlieb Fichte, der ebenfalls das empirische, also das gewöhnlich erfahrbare Ich, von einem reinen, idealen Ich unterscheidet. Dieses ist für ihn das „erste Prinzip aller Bewegung, alles Lebens, aller Tat und Begebenheit”, das dem bewussten Ich logisch vorangeht. Beide „Ichs” stimmen selten überein, sie aber zur vollkommenen Übereinstimmung, zur Identität, zu bringen, sei die ständige Aufgabe und Bestimmung des Menschen. Doch dazu reiche der bloße Wille nicht aus. Wir müssten uns allein und gemeinsam in einem ständigen Prozess des Lernens und der Selbsterziehung die Fähigkeiten dafür erwerben, um die Widerstände und Hindernisse zu überwinden. Und diesen ganzen Prozess des Erwerbs vielfältiger Fähigkeiten mache letztlich das aus, was wir „Kultur“ nennen.

Das kann jeder an sich selbst beobachten. Wir messen die Zustände um uns, das Handeln der anderen Menschen und unser eigenes mehr oder weniger unbewusst ständig daran, wie es eigentlich sein sollte. Und wir merken, dass wir auch selbst mit unserem Verhalten, unserem Tun und unseren Fähigkeiten vielfach nicht zufrieden sind. Wir genügen nicht unseren eigenen Idealen und moralischen Ansprüchen. Wir bleiben zumeist hinter ihnen zurück. Dies festzustellen, ist aber nur möglich, wenn es eine höhere Instanz in uns gibt, die das, was wir gewöhnlich Ich nennen, beurteilt und am eigenen höheren Maßstab misst – das höhere Ich.

Das gewöhnliche Ich weist auf das hin, was hier bisher als Person bezeichnet wird, bildet gleichsam dessen Mittelpunkt. Das Alltags- oder niedere Ich, das sich mit den zeitbedingten seelischen Eigenschaften als Person umkleidet, erscheint als unvollkommene Projektion des eigentlichen reinen, höheren Ichs, mit dem wieder übereinzustimmen auch sein unentwegtes Streben ist, da es ja letztlich von ihm abstammt. Dieser innere Zwiespalt und das daraus hervorgehende Streben, ihn zu überwinden, bilden die ständige innere Antriebskraft aller Kultur.

Im Gegensatz zum gewöhnlichen Ego tritt das höhere Ich nicht von selbst ins Bewusstsein. Es muss gesucht, ins Auge gefasst und willentlich hervorgebracht werden. Rudolf Steiner weist auf einen einfachen, unmittelbar lebenspraktischen Weg hin, den er als elementaren Bestandteil einer höheren Erkenntnisschulung beschrieb, das höhere Ich immer mehr ins Bewusstsein zu heben. Er empfiehlt, sich täglich Augenblicke innerer Ruhe zu verschaffen, in denen man sich eine kurze Zeit aus seinem täglichen Leben zurückzieht und all seine Freuden, Leiden, Sorgen, Erfahrungen und Taten vor seiner Seele vorbeiziehen lässt, aber so, dass man sie von einem höheren Gesichtspunkt aus betrachtet, als ob man sie nicht selbst, sondern ein anderer erlebt oder getan hätte. Man soll in diesen Zeiten die Kraft suchen, sich selbst wie ein Fremder gegenüberzustehen. Dann ist man nicht mehr so eng mit den eigenen Erlebnissen verwoben, und sie zeigen sich in einem neuen Licht. Das Wesentliche beginnt sich von dem Unwesentlichen zu sondern.

Man zieht sich dadurch aus der emotionalen Egozentrik des niederen Ichs allmählich heraus, so dass sich immer mehr höhere Gesichtspunkte für die Beurteilung der Dinge einstellen können. Dabei kommt alles darauf an, „dass man energisch, mit innerer Wahrheit und rückhaltloser Aufrichtigkeit sich selbst, mit all seinen Handlungen und Taten, als ein völlig Fremder gegenüber stehen kann.“ Das bedeutet, dass das höhere Ich mehr und mehr Einfluss auf das Alltags-Ego geltend machen kann. „Denn jeder Mensch trägt neben seinem – wir wollen ihn so nennen – Alltagsmenschen in seinem Innern noch einen höheren Menschen. Dieser höhere Mensch bleibt so lange verborgen, bis er geweckt wird. Und jeder kann diesen höheren Menschen nur selbst in sich erwecken.“ 1

Die geschichtliche Entwicklung der Menschheit

Damit öffnet sich die große Perspektive, dass Mensch und Menschheit von Beginn an in einer unaufhörlichen Entwicklung begriffen sind. Dies setzt einen göttlichen, schöpferischen Plan voraus, der auf ein Entwicklungs-Ziel des Menschen hingerichtet ist. Die Geschichte erscheint sozusagen als ein lange angelegter Prozess göttlicher Pädagogik, einer aus dem Hintergrund gelenkten „Erziehung des Menschengeschlechts“, wie Gotthold Ephraim Lessing sie in seiner letzten Schrift genannt hat.

Aber die Menschheit entwickelt sich nicht gleichmäßig in einer Front vorwärts. Sie wird über die Erde hin schon mit den unterschiedlichsten geographischen Bedingungen konfrontiert, die verschiedenartige Verhaltensweisen und Fähigkeiten herausfordern, in denen sich unterschiedliche Religionen und Kulturen herausbilden. Die Menschen werden in verschiedenen Rassen, Völkern, Stämmen, Familien geboren, in denen sie entsprechend differenzierte seelisch-geistige Entwicklungsbedingungen vorfinden. Und schließlich entwickeln sich die einzelnen Menschen unterschiedlich schnell.

So werden über die Erde hin gleichzeitig verschiedene Aspekte und Fähigkeiten des vollen Menschseins entwickelt und kommen im kulturellen Austausch der ganzen Menschheit zugute, die der Einzelne sonst nacheinander ausbilden müsste. Dies kann an den europäischen Völkern und ihrer Kulturen besonders gut beobachtet werden.

Die europäischen Völker

Während in den asiatischen Völkern der Einzelne noch stark in die Gemeinschaft der Familie und des Volkes eingegliedert ist, in denen das gemeinsame Blut das verbindende und bestimmende Element bildet, haben sich die germanischen Stämme im Zuge der Völkerwanderung durch vielfältige Vermischung mit der je sesshaften Bevölkerung zu den europäischen Völkern entwickelt, bei denen das Verbindende primär in seelischen Gemeinsamkeiten besteht, die sich in kulturellen Eigentümlichkeiten und in je eigener Sprache zum Ausdruck bringen. Die europäischen Völker sind Kultur- und Sprachgemeinschaften. Die Abstammung spielt nur insofern noch eine Rolle, als die seelischen Eigentümlichkeiten an die Nachkommen weitergetragen werden. Aber immer sind auch Menschen und -Gruppen aus anderen Völkern vollständig aufgenommen und integriert worden.

Die Seelengemeinschaft bedeutet eine wachsende Selbständigkeit des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. Er erlebt sich zwar als Angehöriger eines Volkes, insofern er eingetaucht ist in die gemeinsame Seelenwelt, ist aber nicht von ihr zwingend abhängig. Ihm stehen in ihr bestimmte seelische Veranlagungen zur Verfügung, die er naiv ausleben, aber auch bewusst ergreifen, in ihrer Einseitigkeit erkennen und im Erfassen anderer Volkskulturen ergänzen, bereichern und vervollkommnen kann. Die Volksgemeinschaft steht nicht über dem einzelnen Menschen, sondern sie bietet ihm den kulturellen Boden, auf dem er sich als Individuum in einer bestimmten Richtung entwickeln kann.

Der stärkste Impuls für das Loslösen der Individualität aus der sie bindenden Gemeinschaft ging und geht indessen vom Christentum aus. Christus selbst spricht es radikal aus:
„Wenn jemand zu mir kommt und sich nicht frei machen kann von seinem Vater und seiner Mutter, von seinem Weibe und seinen Kindern, von Brüdern und Schwestern, ja sogar von seiner eigenen Seele, der kann nicht mein Jünger sein.“ (Lukas 14, 25-26)

Aus allen Blutsgemeinschaften und auch sonstigen bindenden Gemeinschaften muss sich der Mensch lösen, ja auch aus dem, was er durch sie bisher gewohnheitsmäßig als Person seelisch geworden ist. Er muss sich zu seinem innersten Wesen erheben, seiner geistigen Individualität, seinem Ich, das rein menschlich ist, in dem er mit allen Menschen gleich und brüderlich verbunden ist.

Das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft hat sich dadurch grundlegend geändert. Nicht mehr ist der Einzelne der Gemeinschaft untergeordnet und hat ihr zu dienen, sondern im christlichen Sinne ist die Gemeinschaft für den Einzelnen da und hat seine Entwicklung zu Freiheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen und zu fördern.

Aber die europäische Kultur differenziert sich nun in den europäischen Völkern in ganz verschiedener Weise. Die menschliche Individualität sucht in unterschiedlichen seelischen Kräften ihre Entfaltung. Jedes Volk lebt eine gewisse seelische Einseitigkeit aus:
–  der Italiener eine starke Empfindungsfähigkeit der Sinneswahrnehmungen, die ihn zu musikalischem, malerischen und plastischem Künstlertum anregt;
–  der Franzose eine Freude an der Rationalität, den Drang, alles klar und logisch dem analysierenden und ordnenden Verstand zu unterwerfen;
–  der Engländer das Bestreben, mit einem wachen Selbstbewusstsein ganz bei sich zu sein und die Welt um sich herum kühl und nüchtern zu beobachten und sich dienstbar zu machen;
–  der Russe die eigentlich erst keimhafte Veranlagung zur Gemeinschaft, die Sehnsucht nach einer alle Menschen verbindenden Brüderlichkeit;
–  der Deutsche das Sinnen, alles in seiner Tiefe zu ergründen, auch hinter sein eigenes Alltags-Ich zu seinem eigentlichen höheren Ich vorzudringen.

Jeder kann das durch genaue Beobachtung in vielerlei Hinsicht bestätigt finden. Die übrigen europäischen Völker sind Variationen dieser seelischen Verschiedenheiten. Wir sehen, wie also jedes Volk eine gewisse Einseitigkeit des seelischen Menschen auslebt. Die ganze Seele ist innerhalb eines Volkes noch nicht in Vollkommenheit im einzelnen Menschen ausgebildet, gleich in welchem Volk er auch lebt. Erst die Gesamtheit der europäischen Völker stellt sozusagen prophetisch das vollkommene seelische Menschenwesen dar. Die seelische Besonderheit jedes Volkes ist daher ergänzungsbedürftig durch die der anderen Völker. So dass die Angehörigen jedes Volkes, wenn sie sich selber recht verstehen, danach streben werden, mit den anderen Völkern in kulturellen Kontakt und Austausch zu treten, um von ihnen zu lernen und sich dadurch selber zum vollkommenen Menschen zu bilden.2

Die besondere Qualität der deutschen Kultur

Der „Ich-Charakter“ des deutschen Volkes veranlagt die ihm angehörigen Menschen dazu, im Streben nach dem eigentlichen, höheren Ich einen ausgeprägten Individualismus auszubilden. Dieser ist natürlich nicht von vorneherein allen Deutschen eigen, sondern nur denjenigen, die sich aus innerer Aktivität dazu emporgearbeitet haben; denn das Ich kann sich als inneres Agens nur selbst ausbilden. Solche hervorragenden Individualitäten hat es gerade in der Blütezeit der deutschen Kultur in außerordentlich großer Zahl gegeben.

Ein besonderes modernes Beispiel einer solchen Individualität sehe ich in dem gebürtigen Ägypter Hamed Abdel-Samad, der sich in einer bewunderungswürdigen Weise aus dem „Würgegriff“ des blutsgebundenen und religiösen Kollektivs, das ihn zunächst prägte, befreit und sich in Deutschland zur inneren Unabhängigkeit seines Ich durchgekämpft hat. Er schreibt über seinen inneren Weg:

„Ich habe gelernt, mich von allen Bindungen zu lösen, die mein Weltbild oder meine Meinung hätten beeinflussen können. Ich muss niemandem gefallen. Ich werde dafür von vielen geliebt und von vielen gehasst. Heute lebe ich unter beständigem Polizeischutz. (Wegen seiner Islamkritik wird er von Moslems mit dem Tode bedroht.) Doch weder Applaus noch Drohungen beeinflussen meine Gedanken. … Ich stehe zu meiner Meinung, egal zu welchem Preis. Ich repräsentiere bestenfalls nur mich selbst. … Ich will nur von meinem Recht Gebrauch machen, frei zu denken und frei zu sprechen, egal wo und egal wann. …
Ich habe eine elastische Identität entwickelt, die an geographische Vorstellungen nicht gebunden ist. … Ich selbst definiere meine Identität in erster Linie über die simple Tatsache, dass ich ein Mensch bin. Ein Mensch, der mit der Mehrheit der Erdbewohner die gleichen universellen Werte teilt. Und dennoch bin ich anders, weil ich mich nicht vereinnahmen lasse. … Ich höre nicht auf mit der Suche nach mir selbst. Ich höre nicht auf, mich immer wieder neu zu definieren und infrage zu stellen. Ich brauche keine Gruppe oder Gemeinschaft, die mir bestätigt, dass ich recht habe. Ich brauche nur Luft zum Atmen, etwas zum Essen und Meinungsfreiheit. All das hat mir Deutschland als freies Land zugestanden.“
3

Die letzten Sätze dieser wunderbaren Aussagen bringen zum Ausdruck, dass ein in sich selbst, in seinem eigenen Selbst gegründeter Mensch zugleich ein Weltbürger ist, der sich mit der ganzen Menschheit verbunden fühlt. Denn das Ich ist allgemein menschlich, welchem Volk und welcher Rasse es auch angehört. Wenn der Deutsche – und Hamed Abdel-Samad ist ein hervorragender Deutscher, deutscher als mancher gebürtige Deutsche  – sich zur Unabhängigkeit des Ich erhebt, wie es ihm das deutsche Volk ermöglicht hat, liegt darin das Paradox, dass er damit zugleich über das Volk als Volk hinauswächst und sich als Mensch schlechthin, d. h. als Weltbürger erlebt.

Wer sich also als Deutscher treu im Sinne des eigenen Volkscharakters verhält, kann kein Nationalist sein, er wächst über das Volk hinaus. So sagte auch Goethe:
Überhaupt ist es mit dem Nationalhass ein eigenes Ding. – Auf den untersten Stufen der Kultur werden Sie ihn immer am stärksten und am heftigsten finden. Es gibt aber eine Stufe, wo er ganz verschwindet und wo man gewissermaßen über den Nationen steht und man ein Glück oder ein Wehe seines Nachbarvolkes empfindet, als wäre es dem eigenen begegnet.“ 4

Johann Gottlieb Fichte zählte in seinen „Reden an die deutsche Nation“ jeden Menschen, der nach dem Ich, nach Freiheit und ständiger Fortbildung des Geistes durch Freiheit strebt, gleichgültig wo er geboren und welche Sprache er spreche, zum deutschen Volk.

Wenn der Mensch über die rassenmäßige Prägung seines Leibes und die volksmäßige Bildung seiner Seele hinaus sich im Ich als ein geistiges Wesen, als Mensch an sich, erlebt, wird er nach Menschlichkeit streben, die alle Menschen miteinander verbindet. So war ein weiteres Hauptmerkmal jener klassischen Epoche der deutschen Kultur, dass all ihre Bestrebungen und Schöpfungen von diesem Ideal durchdrungen waren, das Herder zuerst in dem aus dem Lateinischen entnommenen Wort „Humanität“ zusammenfasste.

Gotthold Ephraim Lessing schuf zur selben Zeit in seinem reifsten Drama „Nathan der Weise“, das in der Zeit des dritten Kreuzzuges spielt, in dem Juden Nathan eine Gestalt, in der höchste Menschlichkeit verkörpert war. Das Wichtige für ihn war nicht, in welche Religion die Menschen hineingeboren sind, sondern was von dieser Religion in ihnen als reine Menschlichkeit lebt und sich in ihren Handlungen offenbart und realisiert.

Auch Schillers gesamtem Werk liegt das umfassende Bild des edlen Menschentums zugrunde. Er brachte die besondere Veranlagung der Deutschen zum rein Menschlichen, das der Bildung einer geschlossenen Nation bis dahin auch immer im Wege stand, in dem treffenden Distichon zum Ausdruck:
Zur Nation euch zu bilden, ihr hofft es, Deutsche, vergebens,
Bildet, ihr könnt es, dafür reiner zu Menschen euch aus!“

Das Ich kann nicht erfasst werden, ohne dass es sich dabei seiner selbst bewusst wird. Das Bewusstsein des Ich ist zugleich Ich-oder Selbst-Bewusstsein. Da die deutsche Volkskultur in ihrem Charakter durch das Ich-Element bestimmt wird, kommt sie auch in ihrer Entwicklung von einer bestimmten Stufe an dazu, dass sie sich in ihren Repräsentanten ihrer selbst bewusst wird, sich in ihrem Wesen selbst erkennt. So ist in der Goethezeit die Frage nach dem Wesen des deutschen Volkes und den Aufgaben seiner Kultur als Beitrag zur Menschheitskultur immer wieder gestellt worden.
Das kommt in dem oben zitierten Distichon und anderen Aussprüchen Schillers, sowie in vielen Äußerungen Goethes, Fichtes und Schellings z. B. zum Ausdruck.

Allein aus einer solchen Selbsterkenntnis kann das deutsche Volk Richtlinien und Ziele für sein Handeln in die Zukunft hinein gewinnen, das seinem Wesen gemäß ist. Wo sie nicht vorhanden ist, wird das Verhalten der Deutschen in Kultur, Politik und Wirtschaft im Grunde völlig halt- und richtungslos sein und anderen Mächten folgen. Das erleben wir ja auch in der Gegenwart mit bitteren Konsequenzen.

Die Identität der Individualität

Wenn das höhere, eigentliche Ich des Menschen, seine wahre Individualität, nur unvollkommen und fragmentarisch in der gegenwärtigen Person mit ihrem Mittelpunkt im gewöhnlichen Ich zum Ausdruck kommt, dann liegt der Gedanke nahe, dass es eine Fortsetzung geben muss. Jeder Mensch kommt am Ende seines Erdenlebens zu dem Fazit, dass es im Grunde nur ein Fragment gewesen ist, er bestimmte Entwicklungsschritte gemacht, gewisse Fähigkeiten, Tugenden usw. erworben, aber noch unendlich vieles zu lernen und zu werden vor sich hat, bis also eine vollkommene Übereinstimmung mit seinem höheren Ich erreicht wäre.

Das heißt, es muss ein nächstes Erdenleben geben, das sich aus den Bedingungen des diesmaligen entwickelt, wie es vorangegangene gegeben haben muss, aus denen die jetzigen positiven und negativen Anlagen und Begabungen erklärbar sind. Das höhere Ich, die geistige Individualität, ist in den verschiedenen irdischen Persönlichkeiten in einem jeweils anderen Leib immer dieselbe. Ihre Identität bleibt durch die Inkarnationen hindurch erhalten.

Es ist folgerichtig, dass die Idee der Wiederverkörperung in vielen Geistesgrößen des deutschen Volkes als Konsequenz ihres Denkens über die Differenz eines niederen und eines höheren Ichs im Menschen ganz unabhängig von orientalischen Lehren aufgetreten ist. Denken wir an Goethe, bei dem in einigen Gedichten wie z.B. dem „Gesang der Geister über den Wassern“ der Gedanke anklingt und der zu J.D. Falk sagte:
Ich bin gewiss, wie Sie mich hier sehen, schon tausendmal dagewesen und hoffe wohl noch tausendmal wiederzukommen.“

Und Lessing schrieb am Ende seiner letzten Schrift „Erziehung des Menschengeschlechts“:
„Warum sollte ich nicht so oft wiederkommen, als ich neue Kenntnisse, neue Fertigkeiten zu erlangen geschickt bin? Bringe ich auf einmal so viel weg, dass es der Mühe wieder zu kommen etwa nicht lohnet?“ 5

———————————  
Anmerkungen:
Etwas ergänzte Fassung eines Artikels, der im „Jahrbuch des Denkens – Zeitschrift der deutschen Kultur“ 2023, 7. Jahrgang, erschienen ist.

1   Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten, Dornach   1961 S. 30 ff.
2   H.E. Lauer: Die Volksseelen Europas, Stuttgart 1965;
     Herbert Hahn: Vom Genius Europas, Stuttgart 1966
Besinnung auf das eigentliche Europa
3   Hamed Abdel-Samad: Integration, München 2018, S. 58, 59
4   Goethe zu Eckermann am 14.3.1830
5   Näher: https://fassadenkratzer.wordpress.com/2018/08/24/entwicklung-durch-wiederverkoerperung-des-menschen-eine-ignorierte-erkenntnis-deutschen-geistes/

Avatar von Unbekannt

Autor: hwludwig

herwilud@gmx.de