Schon lange eine Sentimentalität – Hermann Hesse über Weihnachten

Was ich in der Einleitung zu meinem vorigen Artikel nur kurz angesprochen habe, die Hohlheit, materialistische Veräußerlichung und damit verbundene Sentimentalität des Weihnachtsfestes, hat Hermann Hesse (2.7.1877 – 9.8 1962) bereits 1917 in einer Weihnachts-Betrachtung ausführlich behandelt. Er hatte sich, als 1914 der Erste Weltkrieg ausbrach, aus der Schweiz freiwillig bei der deutschen Armee gemeldet, wurde aber für kampfunfähig befunden und zur Betreuung gegnerischer Kriegsgefangener eingesetzt. So sehr seiner Analyse zuzustimmen ist, so bedarf sein abschließendes Fazit allerdings einer Anmerkung. (hl)

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Hermann Hesse

Weihnacht

(Dezember 1917)

Auch früher schon, ehe die große Mahnung an uns ergangen war, bekam ich an Weihnachten je und je leise Widerstände, bekam einen etwas unangenehmen Geschmack auf der Zunge zu fühlen, wie bei einer Sache, welche zwar hübsch, aber nicht ganz echt ist, welche zwar allgemein Vertrauen und Achtung genießt, welcher man aber ganz heimlich doch ein wenig misstraut.

Jetzt, da die vierte Kriegsweihnacht kommt, ist der Geschmack auf der Zunge unüberwindlich geworden. Gewiss, ich feiere Weihnacht, weil ich Kinder habe, die ich nicht um eine Freude bringen will. Aber ich begehe diese Kinderweihnacht ebenso, wie ich in meiner Kriegstätigkeit die Gefangenenweihnacht begehe—als einen hergebrachten, festlich-offiziellen Akt verjährten Herkommens, verstaubter Sentimentalität. Den armen Kriegsgefangenen, die wir seit drei Jahren wie Schwerverbrecher schmachten lassen, schicken wir hübschen Kisten und Päckchen mit Tannenzweigen drin – es ist rührend, und ich fühle das Rührende daran selber zuzeiten stark, denke mir die Gefühle eines Gefangenen, der sein kleines Geschenkchen erhält, male mir aus, welch ein Strom von Erinnerungen ihn unter Umständen beim Duft eines Tannenzweiges überfallen kann. Aber auch das ist ja schließlich nichts als eine Sentimentalität.

Und ebenso wie wir die Gefangenen jahrelang einsperren, obwohl sie nichts getan haben, als sich von einem Sturmangriff oder einen gewaltsamen Erkundung überraschen zu lassen, und wie wir diese armen Hunderttausende und Millionen dann an Weihnachten mit einer gefühlvollen Gabe heimsuchen und sie an das Fest der Liebe erinnern – ebenso machen wir es mit unseren Kindern. Einmal im Jahr lassen wir sie sich an der Legende von der göttlichen Liebe freuen, sind einen Abend lang beim Christbaum mit ihnen rührend nett und erziehen sie im übrigen zum selben Schicksal, das wir heut alle verfluchen.

Wenn der Kriegsgefangene mir das hübsche Weihnachtspaket, das ich im schicke, ins Gesicht schmeißt und den sentimentalen Tannenzweig mit Füßen tritt, so hat er ganz recht. Und wenn unsere Kinder uns am Lichterbaum unsere ganze Ergriffenheit und Erlöstheit durch das Christkind nicht recht glauben können und uns für ein wenig falsch oder doch für ziemlich komisch ansehen, so haben sie ebenfalls völlig recht.

Unsere Weihnacht ist, von den paar wirklich Frommen abgesehen, ja schon sehr lange eine Sentimentalität. Zum Teil ist sie noch Schlimmeres geworden, Reklameobjekt, Basis für Schwindelunternehmungen, beliebtester Boden für Kitschfabrikation.

Das kommt daher: die Weihnacht und das Fest der Liebe und Kindlichkeit ist für uns alle schon längst nicht mehr Ausdruck eines Gefühls. Es ist das Gegenteil, ist längst nur noch Ersatz und Talmi-Nachahmung eines Gefühls. Wir tun einmal im Jahr so, als legten wir großen Wert auf schöne Gefühle, als ließen wir es uns herzlich gern etwas kosten, ein Fest unserer Seele zu feiern. Dabei kann die vorübergehende Ergriffenheit von der wirklichen Schönheit solcher Gefühle sehr echt sein; je echter und gefühlvoller sie ist, desto mehr ist sie Sentimentalität. Sentimentalität ist unser typisches Verhalten der Weihnacht und den wenigen anderen äußeren Anlässen gegenüber, bei denen noch heute Reste der christlichen Lebensordnung in unser Tagesleben eingreifen. Unser Gefühl dabei ist dieses: “Wie schön ist doch dieser Liebesgedanke, wie wahr ist es, dass nur Liebe erlösen kann! Und wie schade und bedauerlich, dass unsere Verhältnisse uns nur einen einzigen Abend im Jahr den Luxus dieses schönen Gefühls gestatten, dass wir sonst jahraus jahrein durch Geschäfte und andere wichtige Sorgen davon abgehalten sind!” Dies Gefühl trägt alle Merkmale der Sentimentalität. Denn Sentimentalität ist das Sich-Erlaben an Gefühlen, die man in Wirklichkeit nicht ernst genug nimmt, um ihnen irgendein Opfer zu bringen, um sie irgend je zur Tat zu machen.

Wenn die Pfarrer und Frommen klagen, dass der Glaube und damit das Glück aus der Welt geschwunden sei, so haben sie recht. Unser Verhalten gegen alle wirklichen Werte des Menschen ist von einer Barbarei und Rohheit, wie sie die Welt seit Jahrhunderten nicht mehr gesehen hat. Dies zeigt sich in unserm Verhalten zur Religion, in unserm Verhalten zur Kunst, in unserer Kunst selber. Denn die beliebte Meinung, dass die Kunst des modernen Europa auf einer ungeheuer hohen Stufe stehe, ist ebenso ein Irrtum der Bildungsphilister wie die Meinung vom Vorhandensein einer hochstehenden und Respekt verdienenden “Kultur” unserer Zeit.

Der “Gebildete” von heute verhält sich zur Lehre Jesu so, dass er das ganze Jahr hindurch an sie nicht denkt und nach ihr nicht lebt, dass er aber am Weihnachtsabend einer vagen wehmütigen Kindererinnerung nachgibt und ein wenig in zahmen, wohlfeil-frommen Gefühlen schwelgt, ebenso wie er noch ein- oder zweimal im Jahre, etwa bei Aufführung der Matthäuspassion, dieser zwar längst verlassenen, dennoch aber noch unheimlichen und im Verborgenen mächtigen Welt seine Reverenz macht.

Ja, das alles gibt man zu, jedermann weiß es, und jeder weiß auch, dass es traurig ist. Schuld daran sind politische und ökonomische Entwicklungen, sagt man, schuld ist der Staat, schuld ist der Militarismus, und so weiter. Denn irgend etwas muss ja doch schuld sein. Kein Volk hat “den Krieg gewollt”, ebenso wie kein Volk den Vierzehnstundentag, die Wohnungsnot und die Kindersterblichkeit “gewollt” hat.

Ehe wir wieder Weihnacht feiern und das Ewige und einzig Wichtige in uns mit einem verlogenen Ersatzartikel von Gefühl abspeisen, sollten wir uns lieber dieses ganzen Elendes recht bewusst werden, auch wenn es zur Verzweiflung führt. Schuld an unserem Elend, schuld an der Nichtigkeit und rohen Verödung unseres Lebens, schuld am Krieg, schuld am Hunger, schuld an allem Bösen und Traurigen ist keine Idee und kein Prinzip, schuld daran sind wir, wir selber. Und auch nur durch uns, durch unsere Erkenntnis, durch unsern Willen kann es anders werden.

Ob wir dann die Lehre Jesu wieder aufnehmen und uns neu zu eigen machen oder ob wir andere Formen suchen, das ist einerlei. Die Lehre Jesu und die Lehre Lao Tests, die Lehre der Reden und die Lehre Goethes ist in dem, worin sie das ewig Menschliche trifft, dieselbe. Es gibt nur e i n e Lehre. Es gibt nur e i n e Religion. Es gibt nur e i n Glück. Tausend Formen, tausend Verkünder, aber nur  e i n e n Ruf, nur e i n e Stimme. Die Stimme Gottes kommt nicht vom Sinai und nicht aus der Bibel, das Wesen der Liebe, der Schönheit, der Heiligkeit liegt nicht im Christentum, nicht in der Antike, nicht bei Goethe, nicht bei Tolstoi – es liegt in dir, in dir und in mir, in jedem von uns. Dies ist die alte, einzige, immer in sich gleiche Lehre, unsere einzige ewig gültige Wahrheit. Es ist die Lehre vom “Himmelreich”, welches wir “inwendig in uns” tragen.

Zündet euren Kindern die Weihnachtsbäume an! Lasset sie Weihnachtslieder singen! Aber betrüget euch selber nicht, seid nicht immer und immer wieder zufrieden mit diesem ärmlichen, sentimentalen, schäbigen Gefühl, mit dem ihr eure Feste alle feiert! Verlangt mehr von euch! Denn auch die Liebe und Freude, das geheimnisvolle Ding, das wir “Glück” nennen, ist nicht da und nicht dort, sondern nur “inwendig in uns”.*

Quelle:

https://hhesse.de/3489/hermann-hesse-gedanken-ueber-weihnachten/

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 Anmerkung (hl):

Es ist richtig, dass die Lehren der anderen Religionen vielfach mit den Lehren des Christentums übereinstimmen. Aber das Christentum unterscheidet sich von ihnen dadurch, dass es mehr ist als eine Lehre. Das Entscheidende ist gerade nicht die Lehre, sondern die Taten des Mensch gewordenen Gottes, die in der Überwindung des Todes gipfeln, in der Auferstehung der physischen Leibesform vom Tode. Vgl. näher hier.

So hat Buddha im 6. Jahrhundert vor Christus bereits eine tief menschliche Lehre von Mitleid und Liebe gelehrt, die auch im Christentum auftritt, insbesondere vom Lukas-Evangelium in erhöhter Form ausstrahlt. Aber die Lehre von Mitleid und Liebe ist im Christentum nicht die Hauptsache,  sondern die Kraft, die Substanz der Liebe selbst, die in Christus zur Erde gekommen und Mensch geworden ist. Die Liebe ist nur dann und in dem Maße „inwendig in uns“, indem wir uns mit Christus verbinden und die Liebe selbst in unser Ich hinüberfließt. Die Lehre ist nur der Appell, dass es so sein möge. Die Substanz der Liebe in Christus ist die Erfüllung der Lehre von der Liebe.

Nur wird sie uns nicht geschenkt. In der Tat: „Verlangt mehr von euch!“, wie Hermann Hesse fordert. Es genügt aber nicht, nur die Gedanken der Lehre zu bewegen und zu versuchen, danach zu handeln. Sie sind in der Regel kraftlos, wie die gesellschaftlichen und weltpolitischen Ereignisse zu Genüge zeigen. Die Gedanken weisen nur auf die Substanz der Liebe hin. Sie muss zuerst in unserem Inneren erlebt werden. Dazu müssen wir aktiv Christus suchen, um mit ihm, der Substanz der Liebe selbst, eins zu werden.

 

 

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Autor: hwludwig

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