Die Wiedererringung des verlorenen Christfestes

Die materialistische Veräußerlichung des Weihnachtsfestes, die wir Jahr für Jahr erleben, zeigt, dass seine spirituelle Substanz aus dem Gemüt der Menschen entschwunden ist. An ihre Stelle sind das Festhalten an gefühlverbundener Tradition, Sentimentalität und Kitsch getreten. Die innere Hohlheit ermöglicht es auch andersgläubigen aggressiven Migranten, durch zunehmende Terrorakte auf Weihnachtsmärkte und Kirchen die christliche Kultur in ihrem eigenen Lande anzugreifen und lächerlich zu machen. Die Abwehr geht nur gegen die äußere Gewalt. Aus der inneren geistigen Substanz des Christentums erfolgt keine wirkliche Gegenwehr, denn es wird keine Substanz mehr erlebt. Wie sie wieder errungen werden kann, ist die existenzielle Frage. 

 Raphael: Sixtinische Madonna, ohne die Randfiguren, die nicht von Raphael stammen. (Waldorfshop-Kunstdruck)

Raphaels Bild der jungen Madonna mit dem Jesuskind entstammt einer ganz anderen Welt- und Menschenanschauung als der heutigen materialistischen. Maria trägt das Kind aus einer geistigen Welt heraus, aus der im Hintergrund noch viele ungeborene Menschen ihnen nachschauen, und betritt zunächst die Wolken der irdischen Welt, die Sphäre der elementaren Lebenskräfte, bevor das Kind dann im irdischen Leibe geboren wird.
Der Mensch ist ein geistiges Wesen, das aus einer geistigen Welt in die irdische herunterkommt, indem es einen physischen Leib annimmt, um hier zu wirken und nach dem Ablegen des unbrauchbar gewordenen Leibes dorthin wieder zurückzukehren. Das war Anschauung und Erfahrung der Menschen, je weiter man in der Geschichte zurückgeht.

Der heutige Mensch, dessen Bewusstsein in einer schwierigen Entwicklungsphase der Menschheit ganz auf die physische Welt reduziert ist, kann das nicht mehr glauben, nicht, weil es nicht sinnvoll wäre, sondern weil ihn unterbewusst eine materialistische Suggestion glauben macht, wirklich sei nur das, was man mit physischen Sinnen wahrnehmen könne. So hält er auch seine Gedanken, die mit den physischen Sinnen nicht wahrnehmbar sind, für nichts Reales, sondern nur für etwas Subjektives, mit dem sich der Mensch seine materiellen Wahrnehmungen ordne.

Aber dass es etwas Geistiges, nur übersinnlich Wahrnehmbares, nicht gebe, ist das Ergebnis eines Gedankens, der selbst sinnlich nicht wahrnehmbar ist. Der Materialist bezieht die Gültigkeit, Gewissheit und Sicherheit seiner materialistischen Theorien gerade nicht aus der materiellen Wahrnehmung, sondern aus dem Gedanken, der etwas innerlich Seelisch-Geistiges ist. Er gesteht ihm hier unbemerkt doch den Charakter einer Realität zu. Seine Theorie hebt sich damit selbst auf. Auf diesem Unsinn steht aber das ganze materialistische Vorstellungs-Gebäude.

Es hat in der Geschichte des Christentums in zunehmendem Maße die Übersetzungen der Evangelien aus dem Urtext, Verständnis und Interpretation bestimmt, so dass von Christus schließlich nur noch der „gute Mensch von Nazareth“ übrig blieb, ein hervorragender Mensch zwar, aber eben ein Mensch wie alle.

Der spirituelle Hintergrund der Evangelien

Doch die Evangelien sprechen von einem übermenschlichen, hohen Gotteswesen, dem Sohn des Vatergottes, dem „Logos“ – der nur unvollkommen mit dem „Wort“ übersetzt ist -, aus dem alle Dinge entstanden sind. „Und das Wort ist Fleisch geworden und hat unter uns gewohnt. Und wir haben seine Offenbarung geschaut …“, heißt es im Prolog des Johannes-Evangeliums. Johannes macht also eine über das Sinnliche hinausgehende übersinnliche Erkenntnis geltend, dass Christus als der Sohnesgott, der Logos, physischer Mensch geworden ist. Er versichert, selbst geschaut zu haben, dass alles, was dieser auf Erden vollbracht hat, Offenbarung seines göttlichen Wesens gewesen sei.

Und auch Lukas schildert eingangs seines Evangeliums, dass neben anderen, „die von Anbeginn an zu Selbstsehern und Dienern des Wortes geworden sind“, auch er, nachdem er „sorgfältig und genau die Stufen des Pfades von Anfang an durchschritten“ habe, „in rechter Aufeinanderfolge niederschreiben“ müsse, „was sich mir gezeigt hat.“ 1  Es ist mit „Pfad“ eindeutig der Erkenntnis-Pfad zu übersinnlichen, geistigen Wahrnehmungen, und mit „Selbstsehern“ das gemeint, was man heute „Hellseher“ nennt. Diese besonders strenge Schulung fand in den Mysterien-Stätten statt.

Die Evangelien sind also nicht aus dem gewöhnlichen Alltagsbewusstsein heraus geschrieben, das damals schon weitgehend auf die physische Welt reduziert war, sondern von geschulten Hellsehern und Eingeweihten aus unmittelbarer Anschauung und Erkenntnis der geistigen Wesen und Vorgänge hinter den äußeren Ereignissen verfasst.
Es sind keine individuellen legendenhaften Dichtungen, aus denen sich die vielen Widersprüche untereinander erklärten, wie man heute vielfach meint, sondern klare Erkenntnisse, die, aus verschiedenen Gesichtspunkten erfasst, sich zu einem Gesamtbild der spirituellen und irdischen Realität ergänzen.

Versetzt man sich in die Situation eines hohen Gotteswesens, das sich in einen menschlichen physischen Leib inkarnieren will, um der Menschheit Kräfte zu bringen, die jeden dazu instand setzen können, sich allmählich aus den Folgen des Sündenfalles zu befreien. Er müsste darauf bedacht sein, aus der Fülle der irdischen Leiber, die sich bis dahin aus den Generationenfolgen auf Erden entwickelt haben, einen zu finden, der das bestmögliche physische Instrument abgibt, die geistigen Impulse des Gottes auf Erden aufzunehmen, zu vermitteln und zu realisieren. Dazu würde er sinnvollerweise Generationenfolgen so lenken, dass der bestmögliche physische Menschenleib zum richtigen Zeitpunkt zur Verfügung steht.

Schaut man die Evangelien danach an, findet man in der Tat im Lukas-Evangelium (3, 23) die Ahnen des Jesus-Kindes über Joseph, Eli, Melchi, Matthatias usw. bis zu dem Priester Nathan, einem Sohn König Davids, und dann bis zu Adam aufgeführt. Auch gleich zu Beginn des Matthäus-Evangeliums wird eine Generationenreihe des dort beschriebenen Jesus-Kindes aufgeführt, deren Namen aber völlig von denen des Lukas-Evangeliums abweichen. Sie führen von dem Vater Joseph über Matthan Jakob, Eleasar Matthan, Eljud Eleasar usw. bis zu König Salomo, dem anderen Sohn König Davids, dann bis zu Abraham. Von David bis hinauf zu Abraham stimmen die Namen dann in beiden Evangelien überein, Lukas führt die Liste nur noch weiter bis zu Adam.

Joseph und Jesus bei Matthäus stammen also von König Salomo ab, Joseph und Jesus bei Lukas von dessen Bruder, dem Priester Nathan. Nimmt man die Evangelien ernst, kann es sich nicht um dieselbe Familie, sondern es muss sich um zwei verschiedene Familien handeln. Sie haben zwar alle dieselben Namen Maria, Joseph und Jesus; das war aber nicht ungewöhnlich, da diese Namen damals weit verbreitet waren.

Die Familie bei Lukas wohnte in Nazareth in Galiläa und musste wegen der Volkszählung nach Bethlehem reisen, wo Jesus in einem Stall geboren wird, in den die Hirten zur Anbetung kommen. Bei Matthäus wohnte die Familie offenbar in Bethlehem. Denn die Heiligen Könige, die von einem Stern zu ihm geführt wurden, „gingen in das Haus“, wie es ausdrücklich heißt, in dem sie das Kindlein fanden. Von einem Stall ist da nirgends die Rede.2

Eine neue spirituelle Erkenntnis

Dass es zwei Jesus-Knaben gegeben hat, ist ein großes Rätsel, das der heutige, an die Sinneswelt gebundene Verstand nicht lösen kann. Das Problem wird daher auch von der Theologie einfach ignoriert. Aber es muss mit der göttlichen Zubereitung des bestmöglichen physischen Leibes und seiner Durchdringung mit den am höchsten entwickelten Lebens- und Seelenkräften zusammenhängen. Aufklärung kann jedoch nur eine geistige Erkenntnis bringen, wie sie die Evangelisten damals noch besaßen und wie sie heute wieder errungen werden muss, wenn die Menschheit nicht im Materialismus dauerhaft von ihrem Ursprung abgeschnitten werden und damit dem Bösen verfallen soll.

Christus hat der Menschheit auch die Kräfte für eine neue übersinnlich-geistige Erkenntnis gebracht. Darauf hat schon Johannes am Ende seines Prologes zum Johannes-Evangelium hingewiesen: „Den göttlichen Weltengrund hat nie ein Mensch mit (physischen) Augen geschaut. Der eingeborene Sohn, der im Schoß des Weltenvaters war, ist der Führer zu diesem Schauen geworden.“
Der Führer zu diesem Schauen kann Christus natürlich für den einzelnen Menschen nur werden, wenn dieser die Verbindung zu ihm aufnimmt.

Die für das moderne wissenschaftliche Bewusstsein angemessene neue geistige Erkenntnis der göttlichen Welt ist von Rudolf Steiner – vielfach verkannt, geschmäht und verleumdet – in vorbildlicher Weise als Geisteswissenschaft ausgebildet und dargestellt worden.3  In Vorträgen über die Evangelien hat er immer wieder betont, dass er nicht die Wahrheit der Evangelien voraussetzt und diese interpretiert, sondern dass seine Ausführungen auf eigenen unabhängigen Forschungen in der geistigen Welt und ihrer Weltenchronik beruhen, welche die Evangelien voll bestätigen und ihre oft nur skizzenhaften Andeutungen vertiefen und ergänzen.4

Vor diesem Hintergrund sei zum bevorstehenden Weihnachtsfest erneut mein früherer Artikel

„Das offenbare Geheimnis von zwei Jesus-Knaben“

zur Lektüre empfohlen.

——————————
1    In der Übersetzung des Neuen Testamentes aus dem Griechischen von Emil Bock, Verlag Urachhaus
2   s. näher Emil Bock: Kindheit und Jugend Jesu, Stuttgart 1980
3    Rudolf Steiner: Wie erlangt man Erkenntnisse der höheren Welten?, Dornach, GA 10
Rudolf Steiner: Theosophie, Dornach, GA 9
Rudolf Steiner: Die Geheimwissenschaft im Umriss, Dornach, GA 13
4   Siehe die Vorträge über die Evangelien in der Gesamtausgabe: GA 103, 114, 123, 139

Avatar von Unbekannt

Autor: hwludwig

herwilud@gmx.de