Ernährung und Spiritualität – Ein anthroposophischer Ernährungsratgeber

Es gibt heute viele ausführliche Ernährungsratgeber, darunter auch anthroposophische. Was die letzteren aber von den anderen unterscheidet, ist, dass sie auf einer tieferen Natur- und Menschenerkenntnis beruhen, die auch die geistigen Kräfte in der Natur und ihre seelischen und geistigen Auswirkungen auf den Menschen einbezieht. Christian Kreiß stellt in seinem folgenden Beitrag knapp und übersichtlich wesentliche Gesichtspunkte und praktische Ratschläge der anthroposophischen Ernährungslehre dar, die auch von seinen eigenen Erfahrungen geprägt sind. Sie können den Lesern bisher vielleicht wenig beachtete Gesichtspunkte eröffnen. (hl) 

Christian Kreiß (Wikipedia)

Von Christian Kreiß

Ernährung ist nicht nur ein materieller Prozess. Was wir essen, hat auch Auswirkungen auf Seele und Geist, wie wir uns fühlen, ob wir zufrieden, wach, leicht, konzentrationsfähig sind oder dumpf, traurig und schwer. Natürlich ist Ernährung bei weitem nicht der einzige Einflussfaktor auf unsere Stimmungen und Gedanken, aber sie nimmt Einfluss, häufig vielleicht sogar mehr, als wir merken oder denken.

Rudolf Steiner hat nie eine bestimmte generelle Ernährungsweise empfohlen. Er schildert detailliert in vielen Vorträgen die seelischen und geistigen Auswirkungen der Lebensmittel auf den Menschen und überlässt es den Zuhörern, ihre eigenen Schlüsse für ihre persönliche Ernährungsweise zu ziehen.1

Fleisch oder vegetarisch?

Anthroposophie geht davon aus, dass die Menschen individuell sehr unterschiedlich sind und daher eine generelle Empfehlung für alle Menschen aller Kulturen und allen Alters unmöglich ist. Man muss immer das Individuum berücksichtigen. Im Wesentlichen beziehen sich die Angaben von Steiner auf den westlichen Kulturkreis in der heutigen Zeit. Der engere Schülerkreis erhielt oft konkrete, individuelle Ernährungsempfehlungen, nicht jedoch die Allgemeinheit.

Außerdem geht Anthroposophie davon aus, dass der Mensch sich entwickelt. Vor Jahrtausenden brauchten die Menschen noch eine andere Ernährungsweise als heute, und sie werden in der Zukunft wieder eine andere Zusammensetzung brauchen. Das heißt, was in der Vergangenheit gut war, kann heute schlecht sein und in der Zukunft erst recht: „Man gibt daher dem Menschen nicht die richtige Nahrung, wenn man sie auf seinen gegenwärtigen Status abstellt, sondern erst dann, wenn man seinen inneren Werdegang ins Auge fasst. Durch Statistiken und äußere Tatsachen erfassen Sie nur den äußeren Status. Sie erfassen aber nicht die Richtung, in der sich der Mensch bewegen muss.“ 2

Ein Beispiel: In der Vergangenheit hat bei bestimmten Völkern viel Fleischkost häufig eine wichtige Rolle gespielt, um die Menschen in ihrer Persönlichkeit zu zentrieren, ihnen Kraft und Mut zu geben und die Tapferkeit zu fördern. Das war auch gut und richtig so, hatte seinen Sinn. Im Laufe der Jahrtausende wird jedoch die Fleischkost für die Menschen langsam immer weniger verträglich, belastet zunehmend die Denkfähigkeit und die Umsicht, die Weite des Blickes. Hoher Fleischverzehr fördert Zorn, Antipathie, Vorurteile und lässt den Menschen stärker in seine persönlichen, egoistischen Interessen versinken, statt in Weltinteressen, in Interesse für Andere, die durch Pflanzenkost gefördert werden.3

Das heißt, der Prozess geht langsam in Richtung immer mehr Vegetarismus. Dazu gehören auch diejenigen tierischen Lebensmittel, die „noch nicht von Leidenschaften durchglüht [sind], wie Milch [oder Eier]. Die Pflanzennahrung wird einen immer weiteren Raum einnehmen.“ 4  Der Milchgenuss hat unter anderem die Wirkung, dass die Heilkräfte gestärkt werden. Also vor allem für Menschen in Heilberufen kann der Milchgenuss besonders förderlich sein.

Das heißt jedoch nicht, dass heute vegetarische Ernährung für alle Menschen das Richtige ist. Manche Menschen würden ohne Fleisch (oder Fisch) so geschwächt werden, dass sie krank werden. Was für jeden einzelnen hier und heute richtig ist, kann und soll nur jeder einzelne für sich entscheiden. Auch nach dem Motto: Lieber Fleisch essen als Fleisch denken. Gerade ein Sich-Zwingen zu Vegetarismus aus weltanschaulichen Gründen ist aus anthroposophischer Sicht bedenklich.

Steiner selbst war nach eigener Aussage Vegetarier und sagt, dass er die Anstrengungen, die er von 1900 bis 1924 „habe durchmachen müssen, dass ich die anders nicht hätte durchmachen können.“ 5  Steiner war kein Anhänger von Veganismus.

Empfehlungen für bestimmte Charakterveranlagungen

Anthroposophen unterscheiden vier Grund-Charakter-Anlagen beim Menschen: Melancholiker, Sanguiniker, Phlegmatiker und Choleriker. Die einzelnen Charaktere sind nicht wertend gemeint, sondern einfach Gemüts-Grund-Charakteristiken. Die meisten Menschen haben einen Haupt- und einen Neben-Charakterzug.

Der Melancholiker sollte bevorzugt „Nahrung genießen, die ganz nahe der Sonne wächst, Nahrung, die weit weg von der Erde gedeiht, die an der vollen Sonnenkraft gereift ist; und das wäre Obstnahrung. So wie durch geistige Übungen die geistige Sonne einen Menschen durchglüht und durchleuchtet, so sollte im Physischen durch die Sonnenkräfte, die in der Obstnahrung enthalten sind, das Verfestigende und Erstarrende im Melancholiker durchsetzt und durchwebt werden.“ 6

Vom Sanguiniker sollte „Wurzelgemüse als Nahrung gewählt werden. Man könnte beinahe sagen: Ein Sanguiniker muss sogar durch die Nahrung an das Physische gefesselt werden, sonst könnte ihn seine Leichtbeweglichkeit zu weit führen.“ 7

Für den Phlegmatiker ist es günstig, wenn er Nahrung zu sich nimmt, die nicht unter der Erde wächst.

„Der Choleriker muss vor allen Dingen vor erhitzenden und erregenden Speisen sich hüten; alle reizenden, stark gewürzten sind für ihn von größtem Schaden.8

Einzelne Lebensmittel

Getreide
Grundsätzlich gilt, dass Brot, Getreide, alle Getreidearten, die allerbesten Lebensmittel sind: „Denken Sie nur einmal, wie stark gerade die Leute auf dem Lande werden dadurch, daß sie einfach viel von ihrem Brot essen, in dem die Feldfrüchte drinnen sind! Sie müssen nur an sich schon gesunde Körper haben; gerade wenn man gröberes Brot [Vollkornbrot] verträgt, ist es eigentlich die allergesündeste Nahrung.“ 9  In manchen anthroposophischen Küchen werden an den sieben Wochentagen die sieben Haupt-Getreidearten verwendet, an jedem Tag eine andere, idealerweise Vollkorn.

Honig
Ich kenne nur ein einziges Lebensmittel, das Steiner immer lobt: den Honig, denn er enthält starke positive, kosmische, aufbauende, spirituelle, den Menschen unegoistisch machende Kräfte. Es brauchen keine große Mengen zu sein, es kommt auf die Qualität an, nicht auf die Quantität. Vielleicht ein Teelöffel pro Tag ist völlig ausreichend.10  Wir haben immer etwa 10 verschiedene offene Honiggläser in der Küche stehen, diese Götterspeise hält ja unbegrenzt.

Zucker
Raffinierter Zucker führt dazu, dass der Mensch seine Ich-Kräfte stärkt, seine Egoität erhöht. Daher kann es für besonders altruistische Menschen oder solche mit einem schwachen Ich-Gefühl oder unselbständige Menschen durchaus ratsam sein, Zucker zu essen. Menschen, die eine starke spirituelle Entwicklung durchmachen, wäre verstärkter Zuckerkonsum geradezu anzuraten: „Es würde sonst doch zu leicht die Versuchung da sein, dass der Mensch nicht nur selbstlos würde, sondern dass er auch träumerisch würde, phantastisch würde, den Zusammenhang verlieren würde mit einer gesunden Beurteilungsfähigkeit der irdischen Verhältnisse. Dazu trägt ein gewisser Zusatz von Zucker zu der Nahrung bei.“ 11 Das Gegenteil gilt für besonders stark ausgeprägte Ich-Persönlichkeiten mit starkem Ego, großer Selbständigkeit oder Hang zu Egoismus. Solche Menschen sollten Zucker meiden.12

Haselnuss
Steiners Aussagen zur Haselnuss haben dazu geführt, dass ich ständig ein Päckchen Haselnüsse auf dem Schreibtisch stehen habe und täglich ein paar davon esse: „Will sich jemand einer denkerischen Schulung unterziehen, dann braucht er vor allen Dingen einen gutgebauten, gesunden Gehirnapparat. Selten aber liefern die Eltern in der heutigen Zeit ihren Kindern solch gut gebautes Gehirn, dann bedarf es der Nachhilfsmittel, um seinen Gehirnapparat zu stärken. Und da ist es vor allen Dingen die Haselnuss, die die Substanz liefert zum Aufbau des Gehirnes. Alle andern Nussarten sind weniger wertvoll, Erdnüsse sind überhaupt zu meiden.“ 13

Gelbe Rüben
sind gut, machen den Kopf stark, gerade bei Kindern, machen innerlich kräftig, damit man nicht weichlich wird. Wenn man eine Leere im Gehirn spürt und man kann nicht gut denken, „dann ist es auch gut, wenn Sie sich Gelbe Rüben einmal eine Zeitlang in die Nahrung tun. Am meisten hilft das natürlich bei Kindern.“ 14

Tomaten:
Bei Krebs oder Krebsgefahr auf keinen Fall Tomaten essen.15

Kartoffeln
Die Kartoffel dringt schnell ins Gehirn ein und macht das Gehirn selbständig. „Der Kartoffelgenuss darf nur so weit gehen, dass er in uns anregt das Gehirnmäßige, das Kopfmäßige. Aber man darf gerade den Kartoffelgenuss nicht übertreiben.“ 16

Kaffee und Tee
Kaffee fördert das logische Denken, die logische Folgerichtigkeit. Allerdings wirkt er wie durch einen Zwang, man fühlt in sich eine gewisse Unselbstständigkeit, „etwas wie eine Wirkung von außen. Will der Mensch folgerichtig denken, dabei aber unselbstständig bleiben, so mag er viel Kaffee trinken.“ Schwarzer Tee wirkt auf das Denken anregend, man bekommt viele Ideen, Einfälle, aber er führt zu haltlosem Denken, wirkt zerstreuend, führt zu spritzigem, aber sprunghaften Denken.17

Alkohol
ist in so ziemlich jeder Beziehung schlecht. Er schwächt die Ich-Kräfte und zerstört Hirn und Herz.18

Ernährungsempfehlungen für den engeren Schülerkreis

Für Menschen, die auf einem spirituellen Schulungsweg sind, gab Steiner teilweise sehr viel konkretere Empfehlungen. Diese wurden jedoch ausschließlich einem engeren Schülerkreis gegeben, die aktiv auf dem Weg der meditativen, inneren Entwicklung sind. Er gab sie explizit nicht für die Allgemeinheit:

„Der Genuß von Fleisch und Fisch ist nicht ratsam. Im Fleisch genießt der Mensch die ganze Tierleidenschaft mit. […] Ebenso sind Hülsenfrüchte nicht sehr ratsam wegen zu großen Stickstoffgehaltes.“ 19 Gerade von Hülsenfrüchten wird den spirituellen Schülern oft abgeraten, sie würden „den Schlaf dumpf und damit den Kopf, wenn der Mensch erwacht, dumpf machen. Die Pythagoreer wollten reine Denker bleiben, nicht die Verdauung zu Hilfe nehmen bei der Kopffunktion, daher haben sie die Bohnen verboten.“ 20  Überhaupt sollte Eiweiß nur in kleinen Mengen aufgenommen werden. Große Eiweißmengen führen zu Fäulnisprozessen in der Verdauung, fördern den Sexualtrieb und schwächen die spirituelle Kraft.

Mäßigkeit

Grundsätzlich gilt, egal, was man isst, dass man weder zu viel noch zu wenig isst, sondern Mäßigkeit übt. Steiner zitiert dazu einen Weisen des Altertums: «Mäßigkeit läutert die Gefühle, erweckt die Fähigkeit, erheitert das Gemüt und stärkt das Gedächtnis, die Seele wird durch dieselbe fast ihrer irdischen Last enthoben und genießt dadurch eine höhere Freiheit» 21

Fazit

In meiner Jugend kannte ich einen Witz: „Was ist der Unterschied zwischen einem Klavier und einer Geige? Antwort: Ein Klavier brennt länger.“ Nach diesem Motto scheinen heute manche Ernährungsratschläge stattzufinden: Es geht häufig nur um den Brennwert, die biochemische, materielle Zusammensetzung und um statistische, empirische Erhebungen. Das hat ja alles seine Berechtigung. Aber: Welches Aroma eine Frucht hat, ob sie sonnendurchtränkt oder unter der Erde wächst, welche Freude der Anblick, der Geruch, der Genuss eines liebevoll zubereiteten Essens in der Seele bewirken, welche Folgen die Mahlzeit auf unsere Denk- und Konzentrationsfähigkeit, auf unsere seelische Zufriedenheit und Ausgewogenheit haben, wird oft wenig berücksichtigt. Aber gerade dieses geistig-seelische, moralische Element gehört bei unserem Essen unbedingt dazu. Dieser wichtige Gesichtspunkt sollte mit diesem Artikel in Erinnerung gerufen werden.

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1   Vgl. Ernährungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft, Vortrag Berlin 17.12.1908, Rudolf Steiner GA (Gesamtausgabe) 57, S.168ff. Auf Seite 171 heißt es: „Wir wollen nicht agitieren, nicht den Menschen nach dieser oder jener Weise kommandieren; wir wollen nur sagen, wie die Dinge wirklich sind. Dann mag sich jeder sein Leben einrichten, wie er will“.
2   Rudolf Steiner GA 96, Ernährungsfragen und Heilmethoden, Berlin 22.10.1906, S.173
3   Rudolf Steiner GA 57, Ernährungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft, Berlin, 17.12.1908, S.180ff. Ernährung und Spiritualität
4   Rudolf Steiner GA 57, Ernährungsfragen im Lichte der Geisteswissenschaft, Berlin, 17.12.1908, S. 181
5   Rudolf Steiner GA 354, Arbeitervorträge, Vortrag 31.7.1924, S.109
6   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904. S. 561
7   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904. S. 561f.
8   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904. S.562
9   Rudolf Steiner GA 354, Arbeitervorträge, Vortrag 31.7.1924, S.101f, Hervorhebung CK
10   Ab 2021 wurde in Europa durch den Imkerverband aufgedeckt, dass fast die Hälfte des in europäischen Supermärkten verkauften Import-Honigs gepanscht oder gestreckt ist. Man sollte sehr gut auf die Herkunft des Honigs achten: https://www.lebensmittelklarheit.de/news/fast-jeder-zweite-import-honig-ist-gefaelscht
11   Rudolf Steiner GA 145, Den Haag, Vortrag 21.3.1913, S.34
12   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904. S.558
13   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904. S.559, Hervorhebung CK
14   Rudolf Steiner GA 354, Arbeitervorträge, 31.7.1924, S.99f
15   Rudolf Steiner GA 327 Landwirtschaftlicher Kurs, Vortrag vom 16. Juni 1924, S.214
16   Rudolf Steiner GA 327 Landwirtschaftlicher Kurs, Vortrag vom 16. Juni 1924, S.215
17   Rudolf Steiner GA 96, Ernährungsfragen und Heilmethoden, Vortrag Berlin 22.10.1906, S.169
18   Rudolf Steiner GA 145, Vortrag in Den Haag 20.3.1913, S.21
19   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904, S.557f
20   Rudolf Steiner GA 230, Vortrag 11.11.1923, S.189
21   Rudolf Steiner GA 266/I, interner Vortrag, vermutlich Berlin 1904, S.559

Zum Autor:
Prof. Dr. Christian Kreiß, Jahrgang 1962: Studium und Promotion in Volkswirtschaftslehre und
Wirtschaftsgeschichte an der LMU München. Neun Jahre Berufstätigkeit als Bankier, davon sieben
Jahre als Investment Banker. Seit 2002 Professor für BWL mit Schwerpunkt Investition, Finanzierung und Volkswirtschaftslehre, Mitglied bei ver.di, Christen für gerechte Wirtschaftsordnung und in der Anthroposophischen Gesellschaft.
Homepage: www.menschengerechtewirtschaft.de

 

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Autor: hwludwig

herwilud@gmx.de

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